Ich habe einmal ‹Ja› gesagt
Es sollte eigentlich ein schöner Nachmittag sein. Wie schon oft, ging das Ehepaar Margrit und Hans Fraefel auch an diesem freien Tag zum Tennismatch, als plötzlich eine Schwäche Margrit Fraefel überrumpelte. Sie fiel zu Boden, und niemand wusste warum! Zwei Jahre lang ging es hin und her, von einer Untersuchung zur anderen, bis schliesslich die Diagnose kam: ALS/PLS – eine Krankheit, welche die Nervenbahnen zerstört und infolgedessen die Muskeln verkrümmt werden, bis der Körper langsam gelähmt wird. Hans Fraefel, der Ehemann, ein frühpensionierter CS-Manager, kümmert sich seit 22 Jahren um seine Frau. Tag und Nacht.
Herr Fraefel, Sie haben sich früher pensionieren lassen und nun widmen Sie Ihre ganze Zeit Ihrer pflegebedürftigen Ehefrau – dies seit mehr als 20 Jahren. Wo finden Sie all die Kraft, die es dazu braucht?
Diese Frage wird immer wieder an mich herangetragen, ist aber nicht mit ein paar Worten klar beantwortbar. Die Krankheit trifft einen nicht so schlagartig wie z. B. ein Unfall. Der Verlauf der Krankheit (ALS resp. PLS) ist schleichend, aber unaufhaltsam und wird so, ob wir wollen oder nicht, ganz langsam, aber stetig zu einem Bestandteil unseres Alltags. Der ganze gewohnte Tages- ablauf ändert sich. Buchstäblich bleibt kein Stein auf dem anderen. Viele lieb gewonnenen Tätigkeiten und Möglichkeiten fallen weg. Dafür aber steht man vor einem ganzen Berg neuer Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Und so beginnt man, diese neuen Aufgaben anzupacken. Manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Energie. Nur eines ist hier absolut keine Option: Aufgeben …
Als Kadermitarbeiter einer Bank war Ihr Berufsleben bestimmt sehr intensiv. Hatten Sie mit Ihrer Ehefrau damals Zukunftsträume?
Um überhaupt Zukunftsträume zu haben, muss zuerst die Gegenwart auf- gebaut und geregelt werden. Mein Berufsleben war extrem intensiv und anspruchsvoll. Meine Frau hat täglich und so die Anforderungen im Job zu meistern. Dabei hat sie auf vieles verzichtet. Immer wieder aber haben wir versucht, nicht einfach all unsere Träume auf später zu verschieben – «Wenn wir mal pensioniert sind, dann …». Trotz Berufsleben haben wir jede Möglichkeit, die sich uns bot, genutzt, um zu reisen – rund um unseren Erdball. Einen grossen, weissen Fleck auf unserer Erlebniskarte bildet lediglich der (hohe) Norden. Dafür hat letztendlich die Zeit nicht mehr gereicht. Die auf unseren Reisen gewonnenen Erfahrungen sind aber so positiv und kraftgebend, dass wir nun in unserem dritten Lebensabschnitt fast keinen verpassten Gelegenheiten nachtrauern.
Dann kam der Tag, an dem Sie erfahren haben, dass Ihr Leben auf den Kopf gestellt wird. Wie kommt man mit einer solchen Situation zurecht? Wo fängt man an, oder ist es die Hoffnung, die einem Kraft gibt?
Nach einer fast zweijährigen Irrfahrt durch die diversesten Abteilungen unserer Spitäler und nach ebenso vielen Untersuchungen und Abklärungen wurde uns der Krankheitsbefund ALS innerhalb eines knapp fünfminütigen Gesprächs mitgeteilt.
Im ersten Moment war das natürlich ein Schock, da wir die extrem wenigen Informationen, die uns zu dieser Krank- heit mitgegeben wurden, überhaupt nicht einordnen konnten. So hat uns dienun eine lange Zeit, in der wir uns in die diversesten Unterlagen und Schriftstücke einlasen. Langsam wurde uns klar, was dieses Krankheitsbild bedeutet. Damit wurden auch all unsere Hoffnungen auf eine eventuelle Besserung zerstört. Die wirklichen Auswirkungen auf unser Leben – dass bei uns eigentlich alles auf den Kopf gestellt wurde – das konnten wir jedoch in keiner Art und Weise abschätzen. Aber auch hier stellte sich die Frage nach der Kraft nie. Es musste ein- fach weitergehen – wie auch immer.
Situationen ist die Gefahr einer sozialen Isolation gross. Wie lange halten Familie und Freunde mit?
Am Anfang ist von sozialer Isolation kaum etwas oder nur wenig zu spüren. Dann wird sie innert kurzer Zeit sehr gross. Die Ursache, die zu diesem Umstand führt, liegt aber bei uns. Unser Leben hat sich geändert. Wir leben extrem von Tag zu Tag. Irgendwelche Treffen oder Begegnungen können wir nur noch sehr kurzfristig oder über- haupt nicht planen. Durch den Roll- stuhl wird der Bewegungsradius stark eingeengt, diverse Destinationen sind überhaupt nicht mehr erreichbar und die verschiedensten Hindernisse lernt man nur langsam kennen (Strassenbelag, Treppen, Lifte etc.). Behinderten- gerechte Wohnungen sind auch heute leider noch nicht an der Tagesordnung. Das Reisen fällt praktisch flach. Die Vorbereitungen werden extrem aufwendig und letztendlich fehlt auch die Kraft, all das, was kommt, zu bewältigen. Unser Bekanntenkreis ist minimal geworden und die wahren Freunde, die einem bleiben, sind ebenfalls sehr rar. Nochmals: Das Problem liegt bei uns. Wir haben in dieser Beziehung in den letzten Jahren sehr viel erfahren und auch gelernt. Für sehr viele Leute bedeutet Krankheit generell etwas Schlechtes, und dem geht man lieber aus dem Weg … erreicht, und genau solche Ziele kennt doch unsere jüngere Gesellschaft auch.
«Pflegende Angehörige» – das ist ein Schlagwort, welches in den letzten Jahren immer öfter vorkommt, in Fachkreisen genauso wie in politischen Instanzen: Man will die pflegenden Angehörigen nicht alleine lassen, ihre Arbeit muss anerkannt werden, die Unterstützungsangebote müssen erweitert werden. Was spüren Sie davon?
Ganz einfach: nichts! Alles spricht davon, ja, aber geändert hat sich für die Betroffenen praktisch nichts. Die Krankenkassen lehnen immer mehr Leistungen ab oder zweifeln sie zumindest an. Die Kostengutsprachen des Kantons für einen erforderlichen Aufenthalt in einem ausserkantonalen Spital werden auf das Äusserste eingeschränkt und und und … Neben den gesundheitlichen Problemen werden die finanziellen Probleme immer mehr ins Zentrum gerückt (z. B. neue Sparmassnahmen der Berner Regierung). Noch nie sind wir von einer Institution, einem Amt, oder einer Gemeinde angefragt worden, ob wir irgendetwas benötigen. Von erweiterten Unterstützungsangeboten ist nichts spürbar. Wer nicht selbst Eigeninitiative entwickelt und etwas unternimmt, erreicht nichts. Besonders problematisch ist das Beschaffen von Hilfsmitteln im AHV-Alter. Doch das ist ein spezielles Kapitel.
Welche Art von Hilfe würde Ihren Alltag erleichtern, welche Angebote vermissen Sie als pflegender Angehöriger?
Weniger Bürokratie im täglichen Umgang mit den Krankenkassen, bei der Beschaffung von Hilfsmitteln oder ganz generell im täglichen Leben mit einer Behinderung würde allen Beteiligten eine grosse Erleichterung bringen.
Möchten Sie noch etwas sagen, das wir nicht angesprochen haben?
Klar doch – die Bedeutung der Spitex (öffentlich oder privat) wurde im Fragenkatalog nicht aufgeführt. Umso mehr muss hier erwähnt werden, dass das uns zur Verfügung stehende Spitexangebot sehr ausgewogen, gut, nützlich und professionell ist. Alle eingesetzten Pflegerinnen zeigen bei ihrer täglichen, nicht immer einfachen Arbeit, extrem viel Herzblut – danke!
Wir leben in einer Zeit, in welcher die Ehe bei den jüngeren Generationen nicht den gleichen Stellenwert hat wie früher. Was bedeutet die Ehe für Sie?
Eigentlich bin ich davon überzeugt, dass die obige Aussage nicht generell zutrifft. Sicher hat sich unser aller Leben in den letzten Jahren wesentlich verändert. In den Medien werden viele Statistiken über unser Zusammenleben gezeigt. Leider aber liegt das Schwergewicht hier meistens auf der negativen Seite. Positive Berichterstattung ist kaum zu finden. Wir haben soeben unsere goldene Hochzeit gefeiert, also 50 Jahre Ehe. Oohh! Dies ist aber keine Auszeichnung, sondern ein Zeitpunkt, den man zusammen und gemeinsam.
Hans und Megi Fraefel anlässlich des Grillplauschs 2016