Heidy Gisler im Gespräch mit Frau Rita Christen

Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern

Zirka dreizehntausend Menschen in der Schweiz leben mit Multipler Sklerose (MS). Was bedeutet es eigentlich, von einer solchen Krankheit betroffen zu sein, und worauf muss man sich einstellen, um mit all den Herausforderungen zurechtzukommen? Frau Rita Christen (56), Direktbetroffene aus Langenthal, Lebenspartnerin und Mutter von zwei erwachsenen Kindern, hat keine Mühe, darüber zu sprechen. An einem sonnigen Nachmittag empfängt sie uns sehr freundlich bei ihr zuhause. Offen und mit Gelassenheit beantwortet sie unsere Fragen.

Dr. Hartman, Sie arbeiten an einem Projekt «Früherkennung psychischer Störungen im Alter». Können Sie uns näher erläutern, um was es sich dabei handelt?

Im Frühling 2016 wurde das Netzwerk Alterspsychiatrie Oberaargau gegründet. Eines der Ziele, welche wir verfolgen, ist die Früherkennung von psychischen Störungen im Alter und deren Behandlung. Gerade bei Hochbetagten werden psychische Störungen häufig verkannt und bleiben unbehandelt. Dabei ist nicht nur an demenzielle Erkrankungen zu denken, sondern auch an Depressionen, Sucht- und Angsterkrankungen.

Frau Christen, zu Beginn unseres Gesprächs möchten wir gerne wissen, wie es Ihnen geht.

Wissen Sie, ich versuche immer, das Schöne im Alltag zu sehen. Manchmal gelingt das besser, manchmal weniger, und wenns mal schlecht geht, weiss ich, dass morgen ein anderer Tag ist, und damit auch wieder eine andere Situation. Als junge Frau war ich sehr aktiv: Schwimmen, Auto, Velo und Töff fahren waren meine Leidenschaft.

Die Multiple Sklerose, kurz MS genannt, ist eine Krankheit, welche sich bekannterweise schleichend entwickelt. Wie war das bei Ihnen?

Eigentlich schon in der Pubertät fiel auf, dass ich oft Rückenschmerzen hatte, die man mit einer Wachstumsstörung erklären konnte. Was jedoch auffällig war: Das Grössenwachstum stagnierte. Einen Grund dafür suchte man nicht, und so ging es halt weiter.

Das heisst, Sie führten ein ganz normales Leben?

Ich habe dann geheiratet und wurde Mutter von zwei Kindern. Mein Leben war ausgefüllt mit Familie, Haushalt und Arbeit. Doch Müdigkeit plagte mich immer mehr. Die Laborwerte zeigten einen Eisenmangel auf, und so hatte man einen Grund dafür gefunden. Trotz Einnahme von Tabletten verbesserte sich mein Zustand nicht. Im Gegenteil, er verschlechterte sich im Halbjahres-Rhythmu.

Und trotzdem waren Sie berufstätig?

Ja, um den Lebensunterhalt als alleinerziehende Mutter zu verdienen. Die Arbeit machte mir grosse Freude, aber mit zu- nehmender Verschlechterung meines Gesundheitszustandes wurde es schwerer. Am schwersten war es am Arbeitsplatz und im Kollegenkreis: Dort munkelte man etwas von Simulieren, da man von aussen nichts von meinen Problemen sehen konnte. Später hatte ich keine Kontrolle mehr über meine Beine und benötigte auf dem Nachhauseweg oft mehr Platz als nur den Gehsteig, so torkelte ich des Wegs. Von weitem konnte man meinen, ich hätte mich mit Alkohol volllaufen lassen. Ich musste meine Hobbys aufgeben, da es viel zu gefährlich gewesen wäre, so auf die Strasse zu gehen.

Und wie ging es dann weiter – wann wurde Ihnen bewusst, was auf Sie zukommen wird?

Eines Tages konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich versuchte es trotzdem alleine und fiel zu Boden. Mit der Ambulanz wurde ich ins Spital eingewiesen und von dort direkt ins Inselspital nach Bern. Ich weiss nur, ich hatte extreme Kopfschmerzen und der erste Gedanke war «ein Tumor im Kopf». Nun wurden Abklärungen getroffen. Die Rückenmarkspunktion verlief nicht ohne Komplikationen und ich konnte danach nur noch den Kopf und die Arme bewegen. Unter hohen Cortisongaben verbesserte sich mein Zustand allmählich. Ich wusste, ich musste wieder gesund werden, denn meine Kinder brauchten mich, und das gab mir sehr viel Energie, um durchzuhalten. Doch dann kam die Begegnung mit meinem Arzt auf offener Strasse. Einfach so im Vorüber- gehen wurde mir die Diagnose MS an den Kopf geschmissen. Ohne weitere Aufklärung stand ich nun da und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Um meinen Zustand zu stabilisieren, verordnete man mir 12 Wochen Rehabilitation in Montana. Gut erholt wurde ich nach Hause entlassen. Ich durfte wieder hoffen. Doch nach 3 Monaten erlitt ich einen Rückfall. Nun wusste ich, dass die schubweise auftretende Krankheit ihren Lauf nahm.

Davon waren nicht nur Sie selber betroffen. Bestimmt war es auch für Ihren Lebenspartner eine neue Situa- tion. Was sagte er dazu?

Wir waren erst seit 9 Monaten zusammen, als ich die Diagnose erhielt. Nachdem ich nun wusste, was auf mich zukommen könnte, wollte ich erst mal Distanz zu ihm, damit wir uns mit der neuen Situation auseinandersetzen konnten. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich Verständnis aufbringen könne, wenn für ihn eine gemeinsame Zukunft so nicht mehr erstrebenswert erschiene. Er wollte aber den Weg mit mir gemeinsam gehen, und so sind wir auch heute noch ein Paar. Er ist bei jeder Entscheidung dabei und jederzeit bestens informiert über meinen Gesundheitszustand.

Irgendwann mussten Sie sich auch von Ihrem Beruf trennen, aber zu- hause waren Sie nach wie vor Mutter und Lebenspartnerin. Wie war das zu vereinbaren mit den zunehmenden Krankheitssymptomen?

Zuerst kam eine Reduktion der Arbeitszeit, später dann die Arbeitsniederlegung. Sie glauben nicht, wie unnütz man sich von einem Tag auf den andern vorkommt. Andererseits musste ich lernen, Hilfsmittel anzunehmen und sie optimal zu nutzen. Die Organisation der Mobilität (Einkaufen, Arzttermin etc.) war eine Herausforderung. Heute habe ich einen elektrischen Rollstuhl, was mir viel Mobilität zurückgibt. Meine Kinder waren gerade mal 13- und 14-jährig, als ich mein Leben neu organisieren musste. Pubertierende Kinder sind ja schon bei normalen häuslichen Verhältnissen nicht immer nur einfach; bei uns war das eine doppelte Herausforderung. Ich konnte nicht überall so präsent sein wie gesunde Mütter, andererseits: Wie sollten die Kinder denn verstehen, was mit Mama los war?

Wollten Sie diesbezüglich keine Hilfe in Anspruch nehmen?

Doch. Es fand ein klärendes Gespräch mit dem Arzt statt; das brachte dann schon etwas Ruhe in den Alltag.

Eine solche Situation stellt auch das soziale Umfeld auf die Probe. Wie war das bei Ihnen?

Anfänglich habe ich mich etwas zurück- gezogen, weil meine vielen Stürze mein Umfeld irritierten. Aber es ist schon so, dass mein Freundeskreis sich verändert hat. Heute habe ich weniger, aber dafür sehr gute Freunde, und ich weiss, dass diese mich nicht fallen lassen. Andererseits versuchte ich, an Treffen mit MS-Betroffenen regen Austausch zu pflegen, bis ich merkte, dass dies nicht meiner Welt entspricht. Ich nahm die Seminarteilnehmer so wahr, dass ihr Zukunftsbild vorwiegend negativ ge prägt ist. Doch ich wollte zukunftsorientiert leben und nicht stehen bleiben. Ich entschied mich also, meinen eigenen Weg zu gehen, der da hiess: möglichst lange selbständig bleiben.

Und haben Sie heute Kontakte mit Direktbetroffenen?

Für Gespräche mit neu Erkrankten bin ich immer noch da. Ich versuche, Ihnen zu vermitteln, dass jeder Betroffene mit seiner Krankheit seinen ganz in- dividuellen Weg gehen muss. Ich kann ihnen zwar Tipps und Tricks weiterge- ben, aber das Leben muss jeder für sich alleine meistern. Die richtigen Medikamente richtig dosiert sind das A und O für meine Lebensqualität. Aus diesem Grunde wurde auch immer mehr der Facharzt (Neurologe) zu meiner Ansprechperson, und der Hausarzt muss- te in den Hintergrund treten.

Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark umfasst und meist im frühen Erwachsenenalter beginnt. Die Krankheit lässt noch viele Fragen unbeantwortet und ist in Verlauf, Beschwerdebild und Therapieerfolg von Patient zu Patient so unterschiedlich, dass sich allgemeingültige Aussagen nur bedingt machen lassen. Aus diesem Grund ist MS auch als «Krankheit mit den 1000 Gesichtern» bekannt.

Die Spitex-Dienste sind heutzutage sehr weit verbreitet, haben sich gut professionalisiert und die individuel- le Pflege und Betreuung wird immer wichtiger. Wollten Sie keine Hilfe in Anspruch nehmen?

Früher gab es Tage, an denen ich nach einem Sturz stundenlang am Boden liegend verbrachte, bis mein Partner am Abend von der Arbeit nach Hause kam und mir helfen konnte, wieder aufzustehen. Es brauchte viel Überwindung, Hilfe durch die Spitex anzunehmen. Seit die Spitex täglich bei mir im Einsatz ist, fühlen wir uns etwas sicherer. Auch mein Partner kann nun wieder gelöster Aktivitäten wahrnehmen, da er weiss, dass in unvorhergesehene momenten jemand da ist, der unkompliziert hilft, und er kann seinen Ausflug wieder stressfrei geniessen.

Frau Christen, es würde uns interessieren, welchen Einfluss eine solche Krankheit auf den Charakter hat: Wird dieser auch verändert?

Nein. Als Mensch habe ich mich nur körperlich verändert; mein Charakter aber ist immer noch derselbe geblieben. Ich habe immer versucht, MS als eine Art Lebensbegleiter zu sehen, mit dem ich mich arrangieren muss, aber ich als Person gehe weiterhin meinen eigenen Weg, zwar mit einigen Ein- schränkungen, aber dankbar, dass ich ein so gutes Umfeld und so hilfsbereite Menschen in meiner Umgebung haben darf.

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Frau Christen kocht trotz der vielen Hindernisse täglich gerne und freut sich auf das gemeinsame Mittagessen, wenn ihr Lebenspartner von der Arbeit nach Hause kommt.

Und wie sehen Sie die Welt aus dieser Perspektive?

Ich nehme sie als gestresst wahr, viel- leicht weil ich selbst nicht mehr so schnell bin. Ich habe gelernt, mit den Aufs und Abs zu leben. Gehts heute schlecht, ist morgen ein anderer Tag, und der kann wieder viel besser sein. Ich habe durch all das Erlebte eine gewisse Zufriedenheit und Gelassenheit erhalten.

Was vermissen Sie am meisten im Alltag bzw. gibt es etwas, das Sie gerne machen würden, das aber aufgrund Ihrer Krankheit schwierig ist?

Ich glaube, mit meiner Krankheit habe ich mich gut arrangiert. Natürlich gibt es vieles, was ich gerne machen wür- de, aber nicht machen kann. Besonders gerne würde ich kochen, backen, aber wie Sie sehen, ist das hier schwierig, da die Schränke zu hoch sind und ich mich mit dem Rollstuhl nur seitlich dem Kochherd nähern kann.