Noch ein aktives Hobby im Terminkalender wurde uns jedes Mal zu viel: Sonja Rüegger

Es ist eine emotionale und kräfteraubende Achterbahnfahrt

Seit 5 Jahren begleitet Sonja Rüegger die betagten Eltern in ihrem Alltag und erlebt haut- nah deren Alterungsprozess und die damit verbundenen Herausforderungen. Berufstätig und Ehefrau, berichtet Frau Rüegger in unserem Gespräch, wie sie alle Verpflichtungen unter einen Hut bringt, welcher emotionaler Belastungsprobe sie ausgesetzt ist und wo sie Hilfe und Unterstützung findet.

Frau Rüegger, seit 5 Jahren betreuen und begleiten Sie Ihre Eltern, welche ohne Hilfe den Alltag nicht mehr meistern könnten. Wie erleben Sie diesen Alterungsprozess der Eltern, was verändert sich in persönlichen Verhältnis- sen, wenn Eltern plötzlich betreuungsbedürftig werden?

Bei meinem Vater haben meine Schwester und ich bereits vor 10 Jahren Veränderungen im Denken und Handeln bemerkt. Wir haben zusammen Veranstaltungen zum Thema «Demenz» besucht und uns von «Pro Senectute» beraten lassen. Gleichzeitig musste sich unsere Mutter immer wieder verschiedenen Operationen unterziehen. Jedes Mal wenn wir dachten, dass sich unsere Unterstützung bald erübrigt, kam wieder das Nächste. Es folgten andauernd Arzttermine, Gespräche und Abklärungen. Bald konnten sich meine Schwester und ich nur noch in den Ferien erholen und entspannen. Die Schwierigkeit bestand darin, dass mein Vater zu jeder Veränderung «Nein» gesagt hat. Ich war nach dieser langen Zeit total überfordert und wusste, dass ich zu meinem Familien- und Berufsalltag nicht mehr in der Lage war, mich weiter um den Haushalt, die medizinische Versorgung und die Administration zu kümmern. Meine Schwester und ich waren zwar ein sehr gutes Team, aber wir waren an unseren Grenzen. So haben wir trotz Vaters Widerstand Hilfe bei Spitex 60plus gesucht und Gott sei Dank auch gefunden.

Unter Elternhaus verstehen wir meistens einen Ort des Rückzugs, einen Ort der Geborgenheit, einen Ort der Erholung … Welche emotionalen Erlebnisse haben Sie gemacht, wenn das Elternhaus nicht mehr dasselbe ist, wenn ein völlig anderes Rollenverhältnis entsteht?

Es ist eine emotionale und kräfteraubende Achterbahnfahrt. Wir verbrachten Stunden gemeinsam am Familientisch bei Gesprächen und beim Ausfüllen von Formularen. Gleichzeitig wurde es immer schwieriger mit dem Gesundheitszustand meines Vaters und seiner Zuechnungsfähigkeit. Zuletzt mussten wir über ihn hinweg Entscheidungen treffen, die ich niemandem wünsche. Meine Mutter setzte all ihre Erwartungen voll und ganz auf uns. Einerseits rührte uns ihr Vertrauen, andererseits belastete es uns auch sehr.

Ältere Menschen wünschen verständlicherweise, so lange als möglich zuhau- se zu leben. Für Ihren Vater kam leider ein Zeitpunkt, an dem es aus medizinischen Gründen nicht mehr möglich war zuhause zu leben, und somit folgte der Heimeintritt. Wie schwierig war dieser Schritt für die Familie, wie haben Sie das erlebt?

Hilfreich war das Begleiten der Fachleute. Jederzeit konnten wir uns mit der Leitung von Spitex 60plus besprechen. So wurden wir bei schwierigen Entscheidungen bestens beraten und unterstützt. Wir schätzen es immens, dass wir Meinungen von kompetenten Menschen hatten, die ausserhalb des Familiensystems waren. Das gab immer wieder Horizonterweiterung oder Bestätigung der eigenen Wahrnehmungen. Der Schritt zur Heimeinweisung war grässlich, weil sich unser Vater bis am Schluss dagegen gewehrt hat. Meine Mutter, meine Schwes- ter und ich waren uns aber alle bewusst, dass wir an unseren Grenzen waren und die Situation eskaliert wäre oder wir alle psychologische und medizinische Hilfe hätten annehmen müssen.

Sie sind berufstätig und leben mit Ihrem Ehemann zusammen. Dazu müssen Sie sich um die kranken Eltern kümmern. Wie bringen Sie all diese Verpflichtungen unter einen Hut? Und übrigens: Bleibt überhaupt noch Zeit für Sie selbst?

Meine Schwester und ich arbeiten 80% und 45%. Wir wollten beide nicht noch mehr reduzieren. Unsere Ehemänner sind sehr verständnisvoll und haben uns, so gut es ging, unterstützt. Trotzdem brauchen wir unsere Zeit zur Erholung. Noch ein aktives Hobby im Terminkalender wurde uns jedes Mal zu viel. Spitex 60plus hat allerdings später auch sehr viele Fahrdienste übernommen wie zum Beispiel Arzt-, Optiker-, Physiotherapie- und Coiffeur-Termine. Das ist uns bis heute eine sehr grosse Hilfe und Entlastung. So bleibt uns Zeit, unser persönliches Beziehungsnetz aufrechtzuerhalten.

Welche Hilfsangebote standen Ihnen als Angehörige zur Verfügung und welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Unterstützung fanden wir bei Pro Senectute, beim psychologischen Ambulatorium Langenthal und vor allem bei Spitex 60plus, da diese Organisation einen 24-Stundenservice anbietet. Wir bekamen Hilfe bei allen Fragen und Abklärungen. So wurden wir auf den «Rotkreuzknopf» aufmerksam gemacht und beim Kaufen eines Rollators begleitet

«Jederzeit konnten wir uns mit der Leitung von Spitex60plus besprechen. So wurden wir bei schwierigen Entscheidungen bestens beraten und unterstützt. Wir schätzen es immens, dass wir Meinungen von kompetenten Menschen hatten, die ausserhalb des Familiensystems waren.»

Ebenfalls werden die vielen Medikamente meiner Mutter gerichtet, verabreicht und kontrolliert. Autofahrten zum Essen im Alterszentrum Haslibrunnen werden übernommen. Wir bekommen Unterstützung beim Erledigen des Haushaltes.

Viele Male waren wir dankbar bei Notfalleinsätzen in der Nacht. Zwei Mal wurde dann entschieden, dass eine Spitaleinweisung unumgänglich ist. Die Angestellten von Spitex 60plus sind freundlich und nehmen sich auch immer wieder Zeit für ein Gespräch mit unserer Mutter. Das tut ihr sehr gut und hilft sehr mit, ihren eintönigen Alltag zu bereichern. Wenn für uns etwas unklar ist, haben wir zu jeder Zeit Kontaktpersonen zur Verfügung, die uns wirklich unkompliziert mit Rat und Tat zur Seite stehen. Meine Schwester und ich können immer wieder mit gutem Gewissen Ferien organisieren, da wir unsere Mutter in besten Händen wissen.

Welche Hilfsangebote wären aus Sicht der Angehörigen noch notwendig, welche es zurzeit in Langenthal nicht gibt?

Unser Vater ist in einem hervorragenden Demenzheim namens «Oberibäch» in Huttwil. Dort wird er zusammen mit weiteren 18 Personen liebevoll und würde- voll begleitet. Wenn man all die Prognosen in den Medien liest und wahrnimmt, wäre es natürlich sehr erstrebenswert, ein weiteres solches Angebot in der Region Oberaargau aufzubauen.