Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung

Marcel Mäder war überzeugt, eigentlich einen gesunden Vater zu haben, ohne ernsthafte Beschwerden. Eine Routinekontrolle sollte es sein. Dann kam plötzlich die Krebsdiagnose und das Leben wurde in Wochen gezählt. Die Nachricht traf die Familie Mäder wie ein Erdbeben… Der Sohn, Marcel Mäder, erzählt in unserem Gespräch über diese schmerzhafte

Herr Mäder, Ihr Vater durfte, nach kurzer Zeit der schweren Krankheit und liebevoller Betreuung von der ganzen Familie, bei vollem Bewusstsein zu Hause sterben. Wie erinnern Sie sich an den Tag, als Sie erfahren haben, dass Ihr Vater an einer unheilbaren Krankheit leidet und das Sterben jetzt absehbar ist?

An dem Tag, als ich und meine Geschwister den Befund der unheilbaren Krankheit meines Vaters von dem zuständigen Arzt im Spital erhielten, war dies zuerst ein grosser Schock. Mein Vater und meine Mutter haben sich nach langer Überlegung im Spital dazu entschieden, den letzten Weg bis zum Sterben zu Hause im gewohnten Umfeld zu verbringen. Ich, mein Bruder und meine zwei Schwestern unterstützten diesen Wunsch und boten unsere Hilfe an.

Es war uns bewusst, dass keine Verbesserung der Krankheit mehr möglich sein wird. Dieses Bewusstsein wurde in der Familie sehr unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet.

Mit der sehr grossen Unterstützung des Pflegepersonals der Spitex 60plus in Langenthal hatten wir das grosse Los gezogen. Die sehr professionelle und sehr diskrete und liebe Art von Anna und Avni war eine sehr grosse Hilfe und Stütze für die ganze Familie.

Wie verlief diese Abschiedsphase, welches sind die Momente, die Sie am meisten berührt haben, wo haben Sie Halt gefunden?

Bei der Abschiedsphase meines Vaters in der Adventszeit 2012 kam erschwerend hinzu, dass gleichzeitig meine Grossmutter im Sterben lag. Die Abschiedsphase verlief parallel und erschwerte den Tagesablauf meiner Mutter sehr. Ja, wie verlief die Abschiedsphase? «Man funktioniert und zapft sehr viel Energie von dem Reserve-Akku an.» Mir lag in dieser schweren Phase sehr viel daran, dass man auch heiter sein sollte und sich an Lebenssituationen meiner fröhlichen Kindheit mit meinen Eltern erinnern und erfreuen durfte. Das gemeinsame Lachen über die Erlebnisse lenkte für kurze Zeit von der Krankheit ab und tat gut. Mit der Zeit bemerkte ich, dass mein Humor auch zu einer anderen Stimmung meines Vaters und der Besucher beige- tragen hatte. Am meisten berührt hat mich aber die sehr schwierige Situation, in der sich meine Mutter befand: gleich- zeitig die Mutter und den Ehemann zu verlieren und dann noch Kraft für sich zu haben. Meine Mutter ging an ihre Leistungsgrenze und überschritt sie auch, was mich sehr beunruhigte. Auch da war das Pflegepersonal uns eine sehr grosse Hilfe, um die richtigen Worte für die Entlastung meiner Mutter finden zu können. Mein persönlicher Abschied von meinem Vater verlief bei vollem Bewusstsein, war sehr traurig, aber für mich zur Verarbeitung sehr wichtig.

Sie und alle Ihre Geschwister waren berufstätig, und doch war immer je- mand da. Wie gestalteten Sie diese Zeit? Haben Sie in dieser Zeit spontan funktioniert oder mussten Sie mitein- ander genau absprechen, wer wann bei den Eltern ist?

Da ich in Basel wohne und arbeite, war es für mich etwas anders als für meine Geschwister, die in der näheren Umgebung wohnen. Zu meiner Sicherheit pendelte ich mit dem Zug von Basel nach Langenthal hin und her. Die schwierige Zeit der Pflege und Sicherheit in der Nacht organisierten wir Geschwister zur Entlastung meiner Mutter sehr vorbildlich.

Die Spitex 60plus durfte die Pflege ihres Vaters übernehmen und ihn bis zum Tod begleiten. Es war eine sehr intensive Zeit. Wie war die Zusam- menarbeit mit der Spitex 60plus und welche Erfahrungen haben sie damit gemacht?

Wir durften zwei sehr nette Menschen der Spitex 60plus kennenlernen, die viel Lebens- und Berufserfahrung im Umgang mit Menschen kurz vor dem Tod aufwiesen. Als Fremde seid ihr in unsere Familie gekommen und als liebe Freunde seid ihr gegangen. Die Frohnatur Anna konnte stets mit ihrem Erscheinen meinem Vater ein Lächeln abgewinnen, so dass für kurze Zeit im Schlafzimmer die Sonne schien. Mit Avni konnte und durfte ich bis tief in die Nacht gute, offene und tiefgründige Gespräche führen. Es gebührt mein Respekt vor dieser grossen Leistung der sehr intensiven Pflege, die mit viel Herzlichkeit, Geduld und Rücksichtnahme erbracht wurde. Ich kann die Pfleg durch die Spitex 60plus mit diesen Mitarbeiter/innen allen Patienten, die auf dem letzten schweren Weg sind, wärmstens empfehle

Während dieser Zeit war die ganze Familie sehr traurig und belastet. Dazwischen waren die Spitex-Mitarbeiter/innen auch noch da. War das in bestimmten Momenten auch eine Belastung bzw. wie weit wurde die familiäre Intimsphäre tangiert?

Die Spitex-Mitarbeiter/innen wurden der ganzen Familie nie zur Belastung, nein im Gegenteil, sie waren mit ihrer sehr diskreten und positiven Einstellung stets willkommen.

Ein Vorteil für uns war sicher, dass nur zwei Mitarbeiter die Betreuung meines Vaters übernommen haben. Ich stellte fest, dass nicht nur die Arbeit der Pflege den beiden wichtig war. Für Gespräche war Platz, ohne dauernd auf die Uhr schauen zu müssen, damit der nächste Termin eingehalten werden konnte.

Nach dem Tod Ihres Vaters war Ihre Mutter plötzlich alleine. Wir leben in einer dynamischen Zeit, Zeitmangel herrscht überall. Viele ältere Leute leiden unter Einsamkeit. Wie verlief die Zeit danach bei Ihrer Familie?

Nach dem Tod meiner Grossmutter und Vaters innerhalb von zwei Tagen war meine Mutter plötzlich alleine. Weihnachten und danach die bevorstehende Beerdigung meiner Grossmutter und des Vaters stellten meine Mutter nochmals vor eine Kraftprobe. Dank dem grossen Familienzusammenhalt, der Verwandtschaft, Freunden und Nachbarn konnte durch viele Gespräche der grosse Verlust und Schmerz geteilt und verarbeitet werden. «Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.» (Zitat: Dietrich Bonhoeffer). Ich selber habe beim Beantworten der gestellten Fragen festgestellt, dass es mich sehr berührt und ich oft tief durchatmen musste. Den Lesern, die in einer gleichen Situation sind, wie wir waren, wünsche ich viel Kraft und kann an dieser Stelle die Institution «Spitex 60plus» von Langenthal jedem Patienten wärmstens empfehlen.

Der Miteinbezug der Angehörigen ist ein wesentliches Grundelement von Palliative Care

Angehörige sind eine unabdingbare Ressource in der häuslichen Sterbebegleitung. Wenn bei knapper werdenden Mitteln die Zielsetzung «ambulant vor stationär» auch für Todkranke und Sterbende verwirklicht werden soll, ist für die häusliche Sterbebegleitung eine professionelle Unterstützung für die Betroffenen unentbehrlich. Die Angehörigen sind mit den Patientinnen und Patienten durch eine meist langjährige gemein- same Geschichte verbunden. Schwere Krankheit und der nahende Tod stellen eine besonders schwierige und belastende Lebensphase dar. Die Begleitung eines sterbenden Menschen ist eine der grössten Herausforderungen, denen man sich stellen kann. In der letzten Lebensphase gehen die betreuenden und pflegenden Angehörigen oftmals an ihre physischen und psychischen Grenzen. Familie und andere nahestehende Bezugspersonen haben in der letzten Lebensphase eines Angehörigen zu Hause eine Doppelrolle zu erfüllen; sie sind diejenigen, die in der Regel ganz intensiv an der Pflege, Betreuung und Begleitung teilnehmen, sie teilweise oder überwiegend übernehmen. Sie sind emotional durch die Tatsache des nahenden Todes eines geliebten Menschen selbst betroffen und belastet. Es muss verhindert werden, dass Angehörige von Menschen mit chronischen Krankheiten oder Personen, die im Sterbe- und Trauerprozess stehen, statt der nötigen Akzeptanz und Hilfe eine Ausgrenzung erfahren. Es gilt, das soziale Helfernetz zu stärken und zu stabilisieren. So kann auch der Umstand minimiert werden, dass Handlungen von Institutionen und Professionellen vorgenommen werden, die auch von Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld hätten gemeistert werden können. Der Miteinbezug der Angehörigen muss ein wesentliches Grundelement von Palliative Care sein.