«Wir sind zwar behindert, werden aber viel mehr noch von unserem Umfeld behindert»
Sehr früh musste Frau Vuilleumier mit Stöcken gehen lernen. Schon im Schulalter. In einer Zeit, wo sich neue Gruppen bilden, wenn die Mitschüler ausgehen wollen, feiern und tanzen, in einer Zeit, wo neue Freundschaften entstehen. In unserem Gespräch berichtet sie emotionell aber auch sachlich und bewusst über die verschiedenen Lebensstationen, die sie durchlaufen musste. Heute ist sie gelassen, selbstbewusst und selbstbestimmend. Ein spannendes Gespräch zwischen Cristina Martina Vuilleumier und Avni Jakurti.
Frau Vuilleumier, seit einem Jahr nehmen Sie nun die Dienstleistungen der Spitex 60plus in Anspruch. Welche sind Ihre Erfahrungen mit dieser Organisation?
Sicher erwarten Sie von mir jetzt viel Lob und zwar nur viel Lob(schmunzelt)! Darf ich ein bisschen weiter ausholen? Alsich mich nämlich das erste Mal mit der Tatsache konfrontiert sah, die Spitex in Anspruch nehmen zu müssen – das war übrigens lange vor meiner Zeit bei Spitex 60plus –, war ich alles andere als begeistert! Ich und Hilfe, das war eine Kombination, die ich bereits als Kleinkind überhaupt nicht mochte. Ich war zwar mit 18 Monaten an Kinderlähmung erkrankt, aber schon mein kindliches Gemüt wehrte sich mit Händen und Füssen gegen jegliche Hilfe! «Selber machen» war meine Devise, die sich bis heute durchzieht. Sehen Sie, nicht gerade eine bequeme Klientin für eine Spitex-Organisation! Aber nun zu Ihrer Frage. Ich suchte eine Spitex, die mich so nahm, wie ich bin: dickköpfig, eigensinnig und störrisch, wenn es um Hilfe ging! Und da darf ich Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen wirk- lich ein Kränzchen winden. Ich kann meine Wünsche anbringen und sie werden im Bereich des Möglichen erfüllt. Ich darf auch mal darum bitten, später oder gar nicht zu kommen, ohne grosse Erklärungen abgeben zu müssen. Ihre Mitarbeiterinnen sind äusserst zuvorkommend und auch bereit, meine Art «zu machen» kommentarlos anzunehmen. Und das ist wirklich sehr angenehm und hilft mir ausserordentlich, den definitiven Schritt ins Älterwerden zu erleichtern! Klar gibt es mal ein bisschen organisatorisches Durcheinander, sicher wäre es schön, wenn ich am Vortag immer wüsste, wer zu mir kommt, natürlich wäre es für mich ein Traum, wenn immer dieselben 2, 3 Mitarbeiterinnen kommen könnten, die mich und meinen Haushalt aus dem FF kennen! Aber das sind alles kleine «Übel» und vermutlich habe ich da Ansprüche, denen eine Spitex für alle gar nicht nach- kommen kann!
Ich habe übrigens in der NZZ vom Sonntag in der Kolumne «Der externe Stand- punkt» vom 28.05.2017 einen interessanten Artikel von Dr. Jérôme Cosandey gelesen, der mir wieder einmal zeigte, dass wir vermehrt selber aktiv werden und uns wehren müssen: Mehr ambulante Alterspflege kann zum Eigengoal werden. Dort heisst es u. a., leicht pflegebedürftige Personen sollten zu Hause, in betreuten Wohnungen oder in Tagesstrukturen, die schwer Pflegebedürftigen hingegen in Heimen gepflegt werden. Trotz des eher pessimistischen Tonfalls des Artikels bin ich überzeugt, dass die Strategie «ambulant vor stationär» die richtige sein sollte. Und diese Einstellung habe ich bei Ihnen gefunden. Ich fühle mich bei Ihnen nicht als Klientin, die man versorgen muss, sondern eher als Hotelgast, dem Hilfe angeboten wird!
Wir sehen oft Menschen im Rollstuhl, die an uns vorbeifahren, dabei wissen wir gar nicht, wie es eigentlich ist, auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein?
Dies ist eine recht schwierige Frage, denn Menschen im Rollstuhl sind in erster Linie einfach Menschen wie die Fussgänger … mit ihren Gefühlen, Ecken und Kanten, mit ihren guten und schlechten Tagen. Entsprechend können sich Fussgänger nur bedingt in unsere Situation versetzen. Klar, ich habe schon des Öfteren mal den einen oder anderen Archi- tekten in einen Rollstuhl verwünscht, wenn einmal mehr unnötige Hindernisse für uns gebaut wurden. Sicher gingen mir gewisse Blicke mehr als nur auf den letzten Nerv, wenn ich einen schlechten Tag hatte. Umgekehrt habe ich aber mit zu- nehmendem Alter Gott sei Dank endlich eingesehen, dass die Art, wie uns Fussgänger begegnen, mehr auf eine gewisse Hilflosigkeit zurückzuführen ist und nicht auf Dummheit, mangelnde Kinder- stube oder Bösartigkeit, wie ich als jun- ger Mensch sehr oft annahm! Und wissen Sie, wie diese «Erleuchtung» über mich kam? Ich konnte vor vielen Jahren an ei- ner Hochtour auf die Gspaltenhornhütte teilnehmen! Das war eine Sensation für mich. Durchgeführt wurde diese Hoch- tour mit Strafgefangenen aus Witzwil, und wenn mich nicht alles täuscht, mit der Pro Infirmis. Ich kam zum ersten Mal in meinem Leben in direkten Kontakt mit Strafgefangenen, und ich glaube mich zu erinnern, dass ein paar heftige Straftaten bei einigen vorlagen. Ich war total hilflos gegenüber diesen Männern, hatte keine Ahnung, wie oder ob ich sie ansprechen sollte. Meine Hemmungen standen mir ins Gesicht geschrieben und ich schäm- te mich, dass ich nicht ganz normal und freundlich auf diese Straftäter zugehen konnte, denn schliesslich ermöglichten sie uns einen Ausflug, der für uns ohne sie nie im Leben möglich gewesen wäre. Und ich kann Ihnen versichern, lieber Herr Jakurti, die Kerle haben sich mächtig ins Zeug gelegt und sich für uns bis zum Umfallen eingesetzt! Und da fiel bei mir endlich der Groschen! So also ging und geht es vielen Fussgängern mit uns! Glauben Sie mir, seitdem bin ich in diesem Bereich so was von tolerant geworden (lacht)!
«Ich hasste meine Behinderung, meine Stöcke, meinen ‹Wackelgang›, ich schämte mich, in der Öffentlichkeit aufzutreten, ich vermied in Bern unsere «Front», wo alle jungen Leute sich trafen und wenn ich mich mal in ein Beizli wagte, sass ich da, bis der letzte Gast gegangen war, denn sitzend sah ja niemand, dass ich eine Behinderung hatte!»
Sie mussten sehr früh lernen, mit Stöcken zu gehen. Besonders im Schulalter muss es ganz schwer ge- wesen sein: In einer Zeit wo sich neue Gruppe bilden, wenn die Mitschüler ausgehen wollen, feiern und tanzen, in einer Zeit, wo neue Freundschaf- ten entstehen … Welche emotionalen Erlebnisse hatten Sie als junges Mäd- chen in dieser Zeit?
Tja, auch da hat wohl jeder Mensch mit einer Behinderung seine ganz persönlichen Erfahrungen gemacht. Meine waren heftig, so heftig wie das Leben in meiner «Sturm und Drang»-Zeit. Ich war gegen alles und alle, ich hasste meine Behinderung, meine Stöcke, meinen
«Wackelgang», ich schämte mich, in der Öffentlichkeit aufzutreten, ich vermied in Bern unsere «Front», wo alle jungen Leute sich trafen, und wenn ich mich mal in ein Beizli wagte, sass ich da, bis der letz- te Gast gegangen war, denn sitzend sah ja niemand, dass ich eine Behinderung hatte! Bei Tanzanlässen (ich hätte alles gegeben, um zu tanzen!) verschanzte ich mich hinter meiner kleinen Fotokamera, was mich leider aber trotz allen Versuchen nicht zur Starfotografin machte. Männliche Freunde hatte ich natürlich keine, was mich noch mehr anstachelte, alles «selber zu machen»! Ich wollte nur eins: Matura beenden, ins Ausland gehen, Erfolg im Beruf haben und allen zeigen, wie gut ich war! Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass ich ein völlig gestresster junger Mensch war, der vor lauter Beweisen, die erbracht werden mussten, gar keine Zeit hatte, sich um sein Inneres zu kümmern, sich zu akzeptieren, schön und gut zu finden und zu lieben! Was für eine Vergeudung von wichtigen Ressourcen!
Sie haben dann einen Beruf erlern jahrelang im PR- und Marketingbe- reich gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie damals gemacht – was hat sich dann in Ihrem Leben verändert
Klar doch, ich startete als Fremdsprachensekretärin, arbeitete bei Sulzer Winterthur und danach bei Nestlé in Vevey. Dort entdeckte ich, dass mir Marketing und Public Relations (PR) zusagten. Ich muss allerdings beifügen, dass ich auch in eine grossartige Zeit hineinkam. Wir wurden fast mit dem roten Teppich empfangen, in der Einführungszeit hatten wir einen persönlichen Betreuer. Dazu kam, dass ich das Glück hatte, wirklich einmalig nette, zuvorkommende Chefs um mich zu haben, so dass ich mich auf das Abenteuer einer weiteren, berufsbegleitenden Schulung zur eidgenössisch diplomierten PR-Beraterin entschloss! Das waren für mich ungewöhnlich krea- tive, aktive Zeiten und mein Selbstwert- gefühl wurde merklich gestärkt! Nach vielen Jahren am Genfersee zog es mich wieder Richtung Zürich, wo ich kurzfristig bei Mövenpick und anschliessend als PR-Chefin bei 3M Schweiz arbeitete. Schlussendlich beschloss ich, mich selbständig zu machen, und eröffnete meine eigene PR-Agentur im Seefeld in Zürich. Die nächsten 10 Jahre werde ich nie vergessen. Sie waren sehr hart, aber ich war meistens glücklich und zufrieden! Meine
«Vor einiger Zeit gelang es dem Bund trotz der langsamen Mühlen, die bei uns mahlen, in kürzester Zeit das Bundeshaus rollstuhlgerecht umzubauen, als plötzlich Nationalrat Marc F. Suter im Rollstuhl nicht mehr durch feuchte Kellergänge befördert werden konnte! Plötzlich war das altehrwürdige Gebäude nicht mehr so sakrosankt und unantastbar … heute können wir Rollifahrerinnen und -fahrer durch das Bundeshaus fahren und sogar eine behindertengerechte Toilette benutzen. Aber eben! Leider muss auch bei uns zuerst etwas äusserst Wichtiges oder Unangenehmes vorfallen, bis sich was tut!»
Mandanten kamen u. a. aus dem Luxus- sektor wie Markenuhren und Seidenfoulards von Künstlern, aber auch aus dem sozialen Umfeld. Die Veränderung kam plötzlich! Zuerst durch eine Lungenembolie, wenig später durch einen selbst- verschuldeten Autounfall, der mich in den Rollstuhl brachte. Aus der Traum von der Selbständigkeit, ich wurde wie-der zur Angestellten. Kein Kunde aus der Luxusbranche wollte schliesslich eine PR-Beraterin im Rollstuhl, die an Luxus- messen auf verwöhnte Journalisten zu- ging! Das kostete mich damals die Welt
Trotzt Behinderung weltweit unterwegs: Frau Cristina Martina Vuilleumie
Sie sind eine selbständige Rollstuhlfahrerin, Sie fahren Auto und entsprechend sind Sie viel unterwegs. Wie gehen Sie mit all den Hindernissen im Alltag um – Sie müssen zur Bank, zur Post, in Einkaufshäuser?
Ja, selbständig bin ich, soweit es ging, geblieben. Ich fand sogar heraus, dass ich bestimmte Dinge im Rollstuhl besser bewältigen konnte als vorher zu Fuss und mit Stöcken! Ausgedehnte Einkaufssamstage im Shopping-Center, die zwar meinem Geldbeutel schadeten, und z. B. Flugreisen mit Betreuung von A–Z waren jetzt Tatsache. Meine Hunde genossen mit mir ausgiebige Spaziergänge der Aare entlang usw.
Eine weitere Reise nach Afrika bestätigte mir, dass ich auch mit Rollstuhl problemlos von all meinen schwarzen Freunden akzeptiert wurde und mein Hilfsprojekt in Gambia auf reduzierter Flamme weiterführen konnte. Nachdem ich in Afrika keinerlei Probleme mit all den Hindernissen hatte, kam ich gestärkt in die Schweiz zurück, wo ich feststellen musste, dass wir zwar behindert sind, aber eigentlich viel mehr noch von unserem Umfeld behindert werden!
Wie Sie sehr richtig sagen: Hindernisse gibt es noch immer mehr als genug, trotz BehiG (Behindertengleichstellungsgesetz) und den Anstrengungen des Bundes. Unsere wichtigen Banken haben immer noch nicht eingesehen, dass wir die zu hoch angebrachten Bankomaten nicht selber bedienen können; die SBB glauben, dass Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer einen fixen Wochen-, ja Monats- und Jahresplan erstellen und selbstverständlich nur nach diesem Plan funktionieren, d.h. dass es für uns normal ist, 24 Stunden vorher schon zu wissen, wohin und um welche Zeit (!) wir am Tag X gehen möchten, ob gutes oder schlechtes Wetter herrscht. In Flugzeugen müssen wir uns nach wie vor dankbar zeigen, dass wir überhaupt mitfliegen dürfen, ein Sitzwunsch mit mehr Beinfreiheit wird konsequent abgelehnt! Warum? Weil die Sitz- plätze mit Beinfreiheit an Notausgängen liegen und wir natürlich durch unsere Präsenz die nicht behinderten Passagiere beim Notausstieg behindern könnten! Kurz gesagt, lieber einen Behinderten opfern als einige gesunde Fussgänger! Da denke ich natürlich schon des Öftern mal, wie schön es wäre, wenn jeder Fussgänger sich einmal in seinem Leben für mindestens ein halbes Jahr im Rollstuhl bewegen müsste! Natürlich ohne die Möglichkeit, sich zwischendurch die Bei- ne zu vertreten, sondern um die Grenzen im Rollstuhl zu erfahren!
Welche Handlungen, die der Staat unternehmen müsste, wären Ihrer Meinung nach ganz dringend, damit es für Leute wie Sie den Alltag etwas leichter macht?
Der Staat? Ich denke, wir alle sind der Staat. Wir müssen unbedingt aufhören, einfach darauf zu vertrauen, dass dann schon jemand irgendwann irgendwie et- was für uns tut! Wir sollten viel mehr selber aktiv werden. Ich bewundere z. B. die Gruppe behinderter Menschen, welche die «Genossenschaft Selbstbestimmtes Leben» im Jahr 1996 gegründet haben und wirklich für wichtige Ziele kämpfen wie barrierefreie Gestaltung, Empower- ment und persönliche Assistenz, De-In- stitutionalisierung und Peer-Counseling. Unsere Schlagwörter, die wir überall in unserer Wohnung an die Wand hängen und in unseren Gehirnen einmeisseln sollten, sind also ganz klar: Gleichberechtigung, Solidarität, keine Diskriminierung mehr und natürlich die für uns so wichtige Selbstbestimmung!
Sicher, Dinge wie z. B. die vollständige Barrierefreiheit müssen – vermutlich leider – durch vom Staat verordnete Gesetze viel energischer vorangetrieben werden. Eine effizientere Zusammenar- beit zwischen Staat und kämpferischen Menschen mit einer Behinderung sollte auch selbstverständlich werden! Vor einiger Zeit gelang es dem Bund trotz der langsamen Mühlen, die bei uns mahlen, in kürzester Zeit das Bundeshaus roll- stuhlgerecht umzubauen, als plötzlich Nationalrat Marc F. Suter im Rollstuhl nicht mehr durch feuchte Kellergänge befördert werden konnte! Plötzlich war das altehrwürdige Gebäude nicht mehr so sakrosankt und unantastbar … heute können wir Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer durch das Bundeshaus fahren und sogar eine behindertengerechte Toilette benutzen. Aber eben! Leider muss auch bei uns zuerst etwas äusserst Wichtiges oder Unangenehmes vorfallen, bis sich was tut!
Es kommt oftmals vor, dass Leute, wenn sie eine/n Rollstuhlfahrer/in sehen, welche/r mit seinem/ihrem Roll- stuhl mit Hindernissen «kämpft», sich nicht trauen, spontan zu helfen. Manche haben Angst vor der Bedienung des Rollstuhls, die anderen denken,«sie/er schafft das schon» und schauen zu! Welches Verhalten wäre hier das Richtige?
Ich denke, jeder Mensch muss das tun, was ihm entspricht: Der eine hat halt allzu grosse Hemmungen – dann soll er es einfach sein lassen! Der andere möchte so gerne etwas Gutes tun und fasst hilfsbereit nach den Handgriffen des Rollstuhls. Das ist ein totales No-Go! Stellen Sie sich vor, jemand käme von hinten und würde Ihren Rucksack anpacken, um Sie vor einer vermeintlichen Gefahr zu retten! Sie wären zu Tode erschrocken, würden vielleicht sogar laut aufschreien und womöglich einen Dieb erahnen! So in etwa fühlen wir uns, wenn jemand von hinten kommt und unseren Rollstuhl anfasst. Dieser ist nämlich ein Teil von uns, gehört also genau wie ein Arm, der Kopf usw. zu uns ganz persönlich! Dann gibt es noch den Gemütlichen, Hochwohl- anständigen, der ganz gelassen fragt, ob er helfen kann. Antwortet der Roll- stuhlfahrer mit einem genervten «Nein», seien sie bitte nachsichtig. Vielleicht sind Sie der 20. Fussgänger, der diese Frage an diesem Tag bereits gestellt hat, oder der Rollstuhlfahrer hat, einen schlechten Tag bei der Arbeit gehabt oder Schmer- zen plagen ihn … seis drum, das nächste Mal werden Sie vielleicht mit einem strahlenden Lächeln und mit einem «oh wie nett, dass Sie fragen. Gerne, danke!» begrüsst!